Über die Linie

Der nihilistische Staat droht den Menschen zu verschlingen. Oft scheint es uns, als gäbe es kein Entkommen. Doch jenseits der Linie wartet das Versprechen einer Zukunft.

Der Nihilismus in der Gesellschaft
Was zeichnet die nihilistische Gesellschaft aus? Was eigentlich ist der Nihilismus? Diesen Fragen geht Ernst Jüngers Essay Über die Linie aus dem Jahr 1958 nach. Gewachsen ist dieser Essay aus Jüngers Erlebnis der Nazi-Zeit und den Jahren nach dem Kriegsende. Ich ergänze diese Perspektive um meine Eindrücke aus den Corona-Jahren 2020 und 2021.

Zunächst ist der Nihilismus schwer greifbar: “Eine gute Definition des Nihilismus würde der Sichtbarkeitmachung des Krebserregers zu vergleichen sein. Sie würde nicht ihre Heilung bedeuten, wohl aber ihre Vorraussetzung.” Es steht jedoch fest, dass der Untergang der Werte zentral ist: “Er korrespondiert mit der Unfähigkeit, höhere Typen auch nur zu konzipieren. Er ist ein Ausdruck der Nutzlosigkeit der Welt und des Daseins überhaupt.” Es bleibt die reine Materie. Althergebrachte Traditionen und Glaubenssysteme, Ehre und Wahrhaftigkeit beginnen, im Angesicht des endlosen, leeren Himmels lächerlich zu werden. Im gleichen Maße wächst das Verlangen nach Objektivität. Sinn, Bedeutung, Beziehung und Erfüllung kann man schlecht messen. Das Diktat der Ziffer verlangt es, dass Prozente und Prognosen, Ansteckungs- und Sterberaten die Handlungen des Staates und seiner Volksmasse diktieren. Die mit dem Nihilismus verquickte Technisierung entwertet das Gefühl und die Intuition, der kalte Verstand, mit seinen - für einen Augenblick - unanfechtbaren wissenschaftlichen Methoden dikitiert das Vorgehen. Der vom Nihilismus ergriffene Bürger muss zugeben, dass er selbst seiner Körperwahrnehmung nicht mehr vertrauen kann. Ob er gesund oder krank ist, kann er ohne Hinzuziehen eines von Experten sanktionierten Testes nicht feststellen.

Überhaupt sind Gesundheit und Krankheit Schlüsselthemen in der nihilistischen Gesellschaft. “Die Krankheit sowie die Zahl der Ärzte nimmt zu. Es gibt eine nihilistische Medizin, deren Kennzeichen darin liegt, dass sie nicht heilen will, sondern andere Zwecke verfolgt. Ihr entspricht ein Patient, der in der Krankheit verharren will.” Krankheit und Gefahr lauern überall in der nihilistischen Welt. Das Vertrauen in die eigene Robustheit ist verloren. Mit Versicherungen und Krankenkassen, mit Risikobeurteilungen und Schutzmaßnahmen sucht man das hereinbrechende Unheil abzuwenden. Medizin ist am besten schon vorm Eintreten der Krankheit, präventiv, einzunehmen, ähnlich einem Talisman oder Schutzzauber.

Weniger offensichtlich ist heute die von Jünger hervorgehobene Kehrseite der Krankheit: Die Gesundheit des aktiven Nihilisten. “Man sieht Typen auftauchen, deren Haut zu Leder gegerbt und deren Gerippe aus Eisen gegossen scheint.” Mir kommen da manche der hohen Funktionäre der nihilistischen Gesellschaft in den Sinn: Geschniegelte Bürokraten mit perfekt sitzender Krawatte, die ohne mit der Wimper zu zucken ihr Leben in Büros und Versammlungen absitzen und deren Sprache - und fast scheint es, auch ihr Denken - von allen Kanten gesäubert ist. Vom Nihilismus ausgehöhlt und befreit von eigenen Werturteilen gelingt es den aktiven Nihilsten, als Apostel des Zeitgeistes gewaltige Arbeits- und Willensleistungen zu vollbringen. “Man sieht eher Menschen auftreten, die gleich eisernen Maschinen ihren Gang nehmen, gefühllos dort noch, wo die Katastrophe sie zerbricht.”

Es kommt auch die Frage auf, ob der Nihilismus mit dem Bösen gleichzusetzen ist. Jünger verneint dies: “Anlage und Programme nihilistischer Veranlagung können sich durch gute Absicht und durch Philantrophie auszeichnen.” Sie mögen zunächst als rettende Tendenz erscheinen und setzen doch den zerstörerischen Prozess fort. “Das führt dahin, dass auf weiten Strecken Recht und Unrecht fast ununterscheidbar werden, und zwar dem Handelnden mehr als dem Leidtragenden.”

Das Böse kann sogar abträglich sein für das reibungslose Funktionieren der nihilistischen Gesellschaft. “Beunruhigend ist weniger, dass Menschen mit krimineller Vorgeschichte gefährlich werden, als dass Typen, die man an jeder Straßenecke und an jedem Schalter sieht, in den moralischen Automatismus eintreten.” Das ist ein Schlüssel: Im Nihilismus wird das Verbrechen nicht länger als moralisches Problem aufgefasst - es wird ganz automatisch vollzogen. Im Unterschied zum Verbrecher ist dem Nihilisten die Unrechtmäßigkeit seiner Tat kaum bewusst - er braucht sie ja nicht zu verstecken, sie eignet sich oft sogar zum Prahlen. Der Automatismus und die Blindheit bleiben auch nach dem Abklingen eines nihilistischen Sturmes bestehen: “Wenn sich das Wetter bessert, sieht man die selben Existenzen friedlich an den gewohnten Ort zurückkehren.”

Methoden des Nihilismus
Wie gelingt es dem nihilistischen Staat, auch diejenigen seiner Bewohner zu beherrschen, die eigentlich in sich den Wunsch verspüren, sich dem Moloch zu entziehen? Körperliche Gewalt ist außer Mode und wird nur mehr selten offen angewandt, doch die Verwalter des Nichts besitzen noch andere Mittel.

“Für alle Mächte, die Schrecken verbreiten wollen, stellt das nihilistische Gerücht das stärkste Mittel der Propaganda dar.” Die Wahrheit dieses Satzes hätte sich mir vielleicht vor 2020/21 noch nicht leicht erschlossen. Doch ich erlebte sie hautnah in den unseligen Coronajahren. Die Gerüchte sind es, die die Moral des zum Widerstand entschlossenen am meisten angreifen. Ich kann mich der meisten Gerüchte, die damals kursierten, nicht mehr erinnern, doch das Gefühl der Hilflosigkeit, des stummen Schreckens angesichts sich immer weiter verstärkenden Schikanen werde ich nie vergessen. Das perfide war, dass viele Gerüchte und Verschwörungstheorien innerhalb kurzer Zeit zur Realität wurden und man so geneigt war, weiteren Gerüchten Glauben zu schenken. Andere Gerüchte ünbertrafen das konkrete Vorgehen: So wurde z.B. der Ungeimpfte belästigt, beschimpft und mit allerlei zusätzlichen Freiheitseinschränkungen, Auflagen und in manchen Fällen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes drangsaliert; die Zwangsimpfung blieb aber - Plan, Drohung, Gerücht. Auch waren es nicht allein der Staat und seine Vasallen, die solcherlei Gerüchte streuten - die Fantasie des zum Widerstand entschlossenen selbst wurde zum Verbündeten der Staatsmacht und manch einer beugte sich dem Druck nicht aufgrund einer konkreten Machtausübung, sondern aufgrund einer Idee, eines Gerüchtes, einer Fantasie, aufgrund der bloßen Vorstellung des sich in der Zukunft immer weiter verdichtenden Unheils. “Gerüchte sind wertvoller als Tatsachen. Das Unbestimmte wirkt bedrohlicher.”

Gemeinschaftssinn und Moral sind weitere Verbündete der Gewalthaber. “Die Übermacht der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen soll einmal moralisch zu Bewußtsein bringen: Das Volk ist alles, du bist nichts!” In einer Gesellschaft, in der trotz der Abkehr vom Christentum noch immer der Altruismus glorifiziert wird, in der das Selbstbewusstsein des Einzelnen durch den starken Anpassungsdruck mindestens seit der Schulzeit gedrückt wird, fällt diese Botschaft auf fruchtbaren Boden. “Wer bin ich”, mag der Einzelne fühlen, “dass ich mich mit Sonderwünschen gegen die Gemeinschaft stelle. Alle um mich sind bereit, ja vielleicht sogar freudig bereit, die kleinen und großen Freuden des Lebens dem Wohlergehen der Gemeinschaft zu opfern. Ist mein Eigensinn nicht kleinlich und egoistisch?”

Der große Schwund
“Die nihilistische Welt ist ihrem Wesen nach eine reduzierte und eine reduziernde, wie das notwendig der Bewegung zum Nullpunkt hin entspricht.” Im Nihilismus schwindet der Überfluss, das Gute, das Wahre, das Schöne, die vielfältigen Dimensionen des Lebens ziehen sich auf einen gemeinsamen Nenner zusammen. Dieser dient als gewaltiger Hebel, um die Gegner zu überrumpeln. Vor allem entschwindet das Wunderbare - Bewunderung ruft nun allein die Zahlenwelt hervor, Wissenschaft wird zur Meßkunst reduziert. Dem Einzelnen entschwindet das Bewusstsein für das große Ganze - er wird zum Fachidioten, bleibt flach und ohne Persönlichkeit. “Es kommt, wie unter einem niedrigen Götterhimmel, zu Ersatzreligionen von unabsehbarer Zahl.” Ersatzreligionen gibt es gewiss schon lange, doch der religiöse Aspekt wurde im Gipfel der Corona-Panik sehr deutlich. So diente die Maske als Identifikationszeichen des Rechtgläubigen, und die Impfung als heilige Kommunion, die von manchen der Gläubigen mit extatischer Freude empfangen wurde.

Der Schwund umfasst auch die Kunst und die Erotik, und auch hier drängt sich wieder die Zahl in den Vordergrund. Der Wert von Musik wird an der Anzahl der Aufrufe und Verkäufe gemessen, und junge Männer bewerten die Schönheit einer Frau auf einer Ziffernskala. Mit der numerischen Erfassung entschwindet das Wunder. In der Zukunft warten nicht mehr reiche Überraschungen, sondern bloß die unausweichliche Katastrophe - schon prophezeien Experten die nächste Pandemie, schon droht unserem Planeten der Hitzetod.

Was tun in solcher Lage?
Zunächst ist festzustellen, dass es keine Sicherheit gibt. “Jeder, der sichere Rezepte anpreist, zählt entweder zu den Scharlatanen oder zu jenen, die noch nicht bemerkten, was die Stunde geschlagen hat.” Dennoch, “der freie Mensch ist schon aus Gründen der Selbsterhaltung verpflichtet, sich darüber Gedanken zu machen, wie er sich in einer Welt verhalten will, in der der Nihilismus zum Normalzustand geworden ist.” So sieht man sich nach Hilfe um. Die großen Kirchen, zu Jüngers Zeit vielleicht in einigen ihren besten Vertretern noch Halt bietend, sind heute noch mehr als damals dem Zeitgeist verfallen. “Die anderen Mächte, je sozialer und humaner sie sich gebärdeten, gaben Fersengeld.” Dennoch erscheint jede Art Organisation dem Einzelnen verlockend in dieser Lage. Sie nimmt ihm die Entscheidung, den persönlichen Entschluss ab. Freiheit wird gegen Komfort getauscht.

Offen Skepsis zu zeigen hingegen hieße, “dem Leviathan gerade den Dienst zu erweisen, der ihm behagt, für den er Heere von Polizisten unterhält.” So ging es vielen Tapferen, die in der Corona-Zeit dem Leviathan die Stirn boten: Sie verloren Monate und Jahre in Gerichtsprozessen, kämpften als Mensch gegen eine gesichtslose Maschinerie, versuchten, ihre Lebendigkeit gegen die Tinte der Bürokraten zu setzen. Gewiss wurden in diesen Kämpfen auch Siege errungen, doch angesichts der Endlosigkeit des nihilistischen Abgrundes erscheint der offene Kampf aussichtslos.

Eros und Tod
Nein, “die Freiheit haust vielmehr im Ungesonderten, in jenen Gebieten, die zwar organisierbar, aber noch nicht zur Organisation zu zählen sind.” Dies ist “die Wildnis”, “das Dickicht, aus dem der Mensch eines Tages wie ein Löwe hervorbrechen wird.” Wo sind diese Oasen, in denen die Wildnis blüht?

Man muss sie jenseits der Angst suchen. Wer die Angst überwindet, dem können die Machthaber nichts anhaben. “Darauf beruht es, dass ununterbrochen Furcht verbreitet werden muss”. In der Corona-Zeit ließen die Führer ihre Maske fallen, schamlos gaben sie zu, dass sie die Furcht zu ihrer Waffe erkoren hatten. Und selbst dieses Eingeständnis konnte nicht den Bann der Angst lösen, in dem sich die Massen verfangen hatten. So konnten die Machthaber unter der dunklen Wolke der Angst ihre kühnsten Träume verwirklichen - selten zuvor waren Menschen in so großer Zahl den Launen der Gewaltigen, den Visionen der Techniker so unmittelbar und selbst im Kleinlichsten ausgeliefert. Wer hier die Angst überwand, musste sich zwar oft äußerlich noch den Fesseln der Angstgesellschaft beugen - doch konnte man im Geheimen das Leben feiern. Sowie der Druck von außen zunahm, fanden die Furchtlosen zueinander.

Dies bringt uns auf zweiten Ausweg: Den Eros. “Wo sich zwei Menschen lieben, entziehen sie dem Leviathan Gebiet, schaffen von ihm nicht kontrollierten Raum. Eros wird immer als wahrer Götterbote triumphieren úber alle titanischen Bildungen. Nie wird man fehlen, wenn man auf seine Seite tritt.” Die Liebe, die Triebe zerschlagen wie nebenbei die kalten Gitterstäbe des Gesetzes. Kein Verbot der Welt hält Eros auf, zu seiner Geliebten zu finden. Auch die Freundschaft ist hier von unermeßlichem Wert. “Ein Mensch genügt als Zeuge, dass die Freiheit noch nicht verschwunden ist; doch seiner bedürfen wir.” Das Corona-Regime wusste dies und versuchte daher, menschlichen Kontakt, Menschlichkeit überhaupt, vollständig zu unterbinden. Wo dies nicht möglich war, musste eine Maske das Gefühl aus den Gesichtern tilgen. So fielen auch die geselligen oder extatischen Zusammenkünfte, etwa der Tanz oder das Konzert, deren Wert nicht leicht ökonomisch zu beziffern ist, als erstes dem Zugriff der Tyrannen zum Opfer. Doch sowie an der Oberfläche alle Fröhlichkeit und alle Gemeinschaft unter dem Eis verdarb, spross im Untergrund neues, stärkeres Leben. Nie schloss ich schneller Freundschaft als auf jenen verstohlenen Geheimtreffen, die inmitten des Wahnsinns das Mensch-Sein feierten.

Jenseits des Nichts
Die unerhörten Triumphe der materiellen Wissenschaft drohen, unsere Welt zu zerreißen. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, bedarf es eine Erforschung des geistigen Kosmos, die mit der der Materie Schritt halten kann. Dort, im Unvermessenen, abseits der festen Straßen, liegen, dicht neben der Möglichkeit des Scheiterns, die ungehobenen Schätze des Ungesonderten. Diese Schätze können erst nach dem Überschreiten der Nulllinie erreicht werden: “Der kennt am wenigsten die Zeit, der nicht die ungeheure Macht des Nichts in sich erfahren hat und der nicht der Versuchung unterlag. Die eigene Brust, das ist die Höhle, zu der die Dämonen andrängen. Hier steht ein jeder im unmittelbaren und souveränen Kampfe, und mit seinem Siege verändert sich die Welt. Ist er hier stärker, so wird das Nichts in sich zurückweichen. Es wird die Schätze, die überflutet waren, auf der Strandlinie zurück lassen. Sie werden die Opfer aufwiegen.