Demian

“Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin. Oft schmeckt es nach Unsinn und Verwirrung, nach Wahnsinn und Traum. Aber jeder strebt, ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziele zu. Wir können einander verstehen; aber deuten kann jeder nur sich selbst.”

Kain

“Es war da ein Mann, der hatte etwas im Gesicht, was den andern Angst machte. Sie wagten es nicht, ihn anzurühren, er imponierte ihnen. Es war etwas kaum warnehmbares Unheimliches, ein wenig mehr Geist und Kühnheit im Blick, als es die Leute gewohnt waren. Dieser Mann hatte Macht, vor diesem Mann scheute man sich. Er hatte ein ‘Zeichen’.” Demian meint sich selbst, als er Sinclair von seiner Interpretation des biblischen Kains erzählt. Demian ist es, der das Zeichen trägt, und er erkennt es, undeutlich und noch schwach ausgeprägt, auch an Sinclair, weswegen er sich mit ihm anfreundet und ihm beisteht. Was aber ist dieses Zeichen? Auch ich sehe es hier und da an Menschen. Manchmal ist es nur die Ahnung einer Möglichkeit. Sowie ich aber mehr zu mir selbst finde, sehe ich das Zeichen deutlicher an anderen. Es zeigt sich als Feuer in den Augen, als Freiheit im Blick, als wilde Lebenskraft. Der Träger des Zeichens überwindet die Scham, und keine Hintergedanken hemmen ihn. Er ist furchtlos, vor allem anderem zeichnet ihn der Mut aus, sein Schicksal zu leben. Wir missverstehen ihn oft, verlachen ihn vielleicht, und ahnen doch im Innersten unseres Herzens, was er uns voraus hat. Und, wenn wir ehrlich sind, wir wollen so sein wie er, genauer: Wollen wir mehr wir selbst sein. Spüren wir nicht schon, wie auch auf uns der Schatten Kains liegt, haben wir nicht selbst – das Zeichen?

Der Weg zu sich selbst ist der Weg aus der Furcht. Die ersten Schritte auf diesem Weg nimmt Demian Sinclair an die Hand. Er hilft ihm gegen den Unhold Franz Kromer, den Sinclair so fürchtet, dass er alle Selbstachtung aufgibt. “Vor Menschen sollte man niemals Furcht haben. Wenn man jemand fürchtet, dann kommt das daher, dass man diesem jemand Macht über sich eingeräumt hat. Man hat zum Beispiel etwas Böses getan, und der andere weiß das – dann hat er Macht über dich. So eine Furcht macht uns ganz kaputt. Du musst sie loswerden, wenn ein rechter Kerl aus dir werden soll. Wenn es gar nicht anders geht, dann schlage ihn tot!“ Freilich, wer von der Furcht besessen ist, wird kaum den Mut zum Totschlag finden. Sinclair schafft es nicht, sich aus eigener Kraft zu befreien. Als Demian ihm den Kromer vom Hals schafft, spürt Sinclair schmerzhaft seine Unselbstständigkeit und Schwäche und er kann die Gegenwart Demians nicht mehr ertragen. So geschieht es, dass sich auf die Befreiung nicht neue Horizonte auftun, sondern es folgt ein Rückzug in die Kindlichkeit. Den Wirren des Lebens der weiten Welt entflohen, verkriecht sich Sinclair bei seinen Eltern. Er war nicht bereit für die Freiheit, das Zerschlagen der Ketten durch einen Befreier beendet die äußere Sklaverei, doch nicht die innere Unselbstständigkeit.

Abraxas

Die Pubertät, der große, unausweichliche Initiator, stößt Sinclair aus dem unschuldigen Paradies der Kindheit. Nachdem ihre ärgsten Wirren vorüber sind, stellt sich die Lebensfrage: Was ist das Ziel? “Ich war ein ausgewachsener Mensch, und doch vollkommen hilflos und ohne Ziele. Fest war nur eines: die Stimme in mir, das Traumbild. Ich fühlte die Aufgabe, dieser Führung blind zu folgen. Aber es fiel mir schwer, und täglich lehnte ich mich auf.” Sinclair wähnt sich noch in der Wüste, er fühlt sich einsam. Demian ist fort. Und doch ist er bereits auf Riesenschritten unterwegs zu sich selbst.

Ein neues Feuer erwacht in Sinclair als er von Abraxas erfährt, dem Gott der das Göttliche mit dem Teuflischen vereint. In Träumen erfährt er von der tiefen Wahrheit dieser neuen, alten Gottheit: Liebe war Engelsbild und Satan, Mann und Weib in einem, Mensch und Tier, höchstes Gut und äußerstes Böses. Dies zu leben schien mir bestimmt, dies zu kosten mein Schicksal. Das Schicksal – Zufälle gibt es nicht – führt Sinclair zu dem Organisten Pistorius. Dieser lehrt Sinclair manches, was er selbst schmerzhaft lernen musste. So etwa, den Mut und die Achtung vor sich selbst zu wahren, selbst in den Stunden großer Einsamkeit, in denen eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihm und den Menschen draußen in der Welt zu liegen scheint. Auch kennt Pistorius die Fallstricke der Moral: “Sie selber dürfen auch kein Moralist sein! Sie halten sich manchmal für sonderbar, werfen sich vor, dass Sie andere Wege gehen als die meisten. Das müssen Sie verlernen. Wenn die Ahnungen und Stimmen in Ihrer Seele anfangen zu sprechen, überlassen Sie sich ihnen, und fragen Sie ja nicht ob das wohl auch dem Herrn Lehrer oder dem Herrn Papa oder irgendeinem lieben Gott passe oder lieb sei! Damit verdirbt man sich. Unser Gott heißt Abraxas, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich. Abraxas hat gegen keinen Ihrer Gedanken, gegen keinen Ihrer Träume etwas einzuwenden. Man darf nichts fürchten und nichts für verboten halten, was die Seele in uns wünscht.” Nur eine Sünde kennt Abraxas: Vom eigenen Weg abzukommen und uns in der Anpassung selbst verlieren. Dann verlässt uns Abraxas und sucht sich einen würdigeren Träger.

Freilich geht es nicht darum, blind alle Triebe und Impulse zu befolgen. Verspüren wir etwa den Wunsch, eine gigantische Unflätigkeit zu begehen, oder einen anderen zu vernichten, so ist dies meist ein Irrtum: “Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.” Der Hass zeigt uns wo wir selbst noch einen blinden Fleck haben, eine Schwachstelle, die es auszumerzen gilt. Sinclair lernt auch die Achtung vor den unergründlichen Wegen anderer. So sieht er Pistorius einmal betrunken durch die Straßen taumeln und spürt Verachtung und Verurteilung in sich aufsteigen. “Ich fühlte noch im selben Augenblick, dass das niedrig und moralisch gedacht sei. Was wusste ich von seinen Träumen?”

Aufbruch

“Jeder muss einmal den Schritt tun, der ihn von seinem Vater, von seinen Lehrern trennt, jeder muss etwas von der Härte der Einsamkeit spüren, wenn auch die meisten Menschen wenig davon ertragen können und bald wieder unterkriechen.” Eines Tages drängt es Sinclair fort von seinem Mentor Pistorius. Dessen Schwachstelle genau ahnend, genügt ein spitzer Kommentar, um das vertraute Verhältnis zu zerstören. Sofort bereut Sinclair den Angriff, und doch war die Trennung notwendig. “Er hatte mich einen Weg geführt, der auch ihn, den Führer, überschreiten und verlassen musste.” Pistorius muss zugeben, dass er den Weg, den Sinclair jetzt beschreiten muss, nicht zu gehen bereit ist: “Wer wirklich gar nichts will als sein Schicksal, der hat nicht seinesgleichen mehr, der steht ganz allein und hat nur den kalten Weltenraum um sich.”

Es fühlt sich hart und traurig an, ein Vorbild abzulegen. Ich erinnere mich, wie ich lange Zeit danach strebte, in einer Sache so zu werden wie mein Vorbild. Ich bewunderte das in ihm, was ich nicht hatte und zu besitzen müssen glaubte. Es war darin weiter als ich und ich wähnte mein Glück darin, selbst diesen Punkt zu erreichen. Irgendwann erkannte ich, dass mich dieses Streben von mir selber wegführte. Ich wandte mich fort, schlug eine eigene Richtung ein. Das Vorbild fühlte sich verraten, ich fühlte mich als Verräter, und doch war es recht. Zu lange schon war ich in seinem Fahrwasser. Eigene Wege zu schlagen ist beschwerlich und einsam, doch es ist lebensnotwendig.

“Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?”

Sinclairs stärkstes Vorbild, Demian, spricht ein letztes Mal zu ihm als beide schwer verletzt im Lazarett liegen. “Kleiner Junge! Pass auf, ich werde fortgehen müssen. Du wirst mich vielleicht einmal wieder brauchen, gegen den Kromer oder sonst. Wenn du mich dann rufst, musst du in dich hinein hören, dann merkst du, dass ich in dir drinnen bin. Verstehst du?” – Ich verstehe. Auch in mir spüre ich Demian. Seitdem ich ein kleiner Junge war, hatte ich davon geträumt, einen Freund oder großen Bruder wie Demian zu haben, oder wie Tyler Durden. Jemand, der wie ich ist und mich ganz und gar versteht, doch größer, strahlender, mutiger. Nun endlich weiß ich, wo ich diesen Menschen finden kann. Zwischen ihm und mir liegt der Drache Furcht. Indem ich ihn bezwinge und immer mehr ich selbst werde, bin ich dieser Mensch.

Als Sinclair am Morgen erwacht, ist Demian fort. “Das Verbinden tat weh. Alles, was seither mit mir geschah, tat weh. Aber wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich selbst hinuntersteige, da wo im dunklen Spiegel die Schicksalsbilder schlummern, dann brauche ich mich nur über den schwarzen Spiegel zu neigen und sehe mein eigenes Bild, das nun ganz Ihm gleicht, Ihm, meinem Freund und Führer.”