Zur Desinvolture

Begeben wir uns auf eine Spurensuche nach der Desinvolture - der Unschuld und Anmut der Macht. Ernst Jünger verortet sie bei Sindbad dem Seefahrer und Ludwig XIV. Doch finden wir ihren Abglanz auch in unserer Welt.

Dieser Text bezieht sich auf das Kapitel Zur Desinvolture aus Jüngers Das Abenteuerliche Herz, das hier als Lesung zu finden ist:

Was ist Desinvolture? Lesen wir zunächst zwei Beispiele:

“Auf einer festlichen Tafel, an der viele Gäste versammelt sind, liegt ein goldener Apfel zur Schau, den niemand zu berühren wagt. Jeder hat den brennenden Wunsch, ihn zu besitzen, aber jeder fühlt, dass sich ein schrecklicher Aufruhr erheben würde, wenn er diesen Wunsch auch nur andeutete. Da tritt ein Kind in den Saal und ergreift den Apfel mit freier Hand, und aller Gäste bemächtigt sich eine tiefe, freudige Zustimmung.”

Der Mensch vermag das Gold ohne Neid zu betrachten, wenn er es in der Hand des Edlen erblickt. Der arme Lastträger, der den glücklichen Sindbad inmitten seines Palastes thronen sieht, beginnt Allah zu preisen, der so hohe Gaben verleiht.

Desinvolture ist die Selbstverständlichkeit des Auserwählten, das Bewusstsein der eigenen Vormachtstellung. Sie basiert auf der Übereinstimmung zwischen innerer Überzeugung und äußerem Handeln. Selbstzweifel und Desinvolture schließen sich aus. Das Kind ist überzeugt davon, dass es den Apfel verdient, genauso wie Sindbad sich im Recht fühlt, einen Palast zu besitzen und Ludwig XIV sich von Gott auserwählt sieht. So können sie sich Handlungen herausnehmen, die sonst von anderen als Anmaßung aufgefasst würden, mit Empörung und Widerstand als Folge. Desinvolture zu besitzen verleiht Privilegien. Ein Blick genügt, um seinem Willen Geltung zu verschaffen.

Sowie ich darüber nachdenke finde ich überall die Wirkungen dieser Macht. Etwa in meiner Schulzeit: Die beliebten Jungen konnten es sich herausnehmen, allerlei Schabernack mit ihren Mitschülern zu treiben, es wurde ihnen verziehen, ja es wurde demütig erwartet - ihr selbstverständlich überlegenes Auftreten machte sie unangreifbar. Auch ich trieb viel Unfug, doch fehlte mir die anmutige Selbstsicherheit und so eckte ich stets an, machte mich unbeliebt, man misgönnte mir mein aufrührerisches Verhalten - es war unangemessen, da ich nicht die nötige Desinvolture besaß.

Oder ein Beispiel aus meinem Erwachsenenleben: In der Coronazeit durfte man Läden in Deutschland nur mit Maske betreten. Das schmeckte mir gar nicht, voller Groll und Verachtung für die maskierten Feiglinge schritt ich ohne Maske durch die Läden. Doch überall stieß ich auf Widerstand, feindselige Blicke machten den Einkauf zum Spießrutenlauf und immer wieder wurde ich von Verkäufern aufgefordert, eine Maske aufzusetzen oder nach einem Attest gefragt. Schließlich gab ich auf und reihte mich ein in die Masse der maskentragenden Feiglinge. Ganz anders das Erlebnis eines Bekannten, der die ganze Coronazeit hindurch ohne Maske einkaufen war. “Wie hast du das gemacht? Hast du ihnen ein Attest gezeigt?”, fragte ich ungläubig. “Es hat mich beinahe nie jemand behelligt. Ich bin einfach ganz selbstverständlich Einkaufen gegangen, wie immer. Ohne Absicht auf Konfrontation”. Mit anderen Worten, er fühlte sich völlig im Recht, während ich verunsichert war und in dem Bewusstsein handelte, gegen die Regeln der Gemeinschaft zu verstoßen.

Die Abwesenheit von Desinvolture kann soziale Interaktionen enorm erschweren und unüberwindliche Hindernisse auftürmen. Umgekehrt ermöglicht ihr Besitz erstaunliches. Eindrucksvoll wurde mir dies auf dem Feld der Liebe bewusst. Bei meinen anfänglichen Versuchen war ich unsicher und bemüht, vor jedem Vorstoß in irgendeinerweise ein Einverständnis der Frau zu bekommen, drückte Wünsche vorsichtig in Fragen aus und war peinlich berührt, wenn diese abgelehnt wurden. Mit wachsender Sicherheit ergriff ich die Initiative, statt zu fragen machte ich Vorschläge, gab schließlich wie selbstverständlich Anweisungen und war erstaunt über die oft widerstandslose Akzeptanz.

Nicht jeder ist in gleichem Maße empfänglich für die Aura ungezwungener Macht. Doch jeder wird wohl schon einmal in sich den Wunsch gespürt haben, einem anderen zu dienen oder ihn zu beeindrucken durch besondere Leistung. Der Begriff “Vater” schießt mir in den Kopf. Es war mein Vater, dessen Bewunderung ich als Kind stets gewinnen wollte und dessen offensichtlicher, göttergleicher Macht ich mich gerne unterwarf. Ist es dieses Gefühl, das in uns erweckt wird, wenn wir einem Menschen mit Desinvolture gegenüberstehen? Ist es dieses Gefühl, das wir erwecken, wenn wir selbst - Desinvolture besitzen?

Mir dämmert: Desinvolture ist die geheime Zutat, mit der man sein Machtpotential entfalten kann, ohne sogleich auf Widerstand zu stoßen. Wie also mehr davon gewinnen? Hier weiß ich nicht weiter. Ein unschuldiges Machtgefühl ist kein Willensakt. Zwar kann es gelingen, es zeitweilig vorzutäuschen, aber die ihm zugrunde liegende Anmut lässt sich schwer erzwingen. Am ehesten vielleicht mag es uns als heiterer Gast zufliegen, Widerschein eines tatenreichen, ungezähmten Lebens.