Viel Tier steckt noch im Menschen, und gewaltig ist die Macht der Urtriebe. Der Wiener Psychologe Raphael Bonelli beschreibt in seinem Buch “Bauchgefühle”, wie wir im Angesicht triebhafter Verlockungen und Ängste ein tugendhaftes Leben führen können, um Glück und Freiheit zu erlangen.
Bauch, Kopf und Herz sind, angelehnt an Platons Seelenlehre, die drei Instanzen die das Verhalten eines Menschen ausmachen. Der Bauch steht für das Triebhafte, für Liebe und Hass, für Angst und Begierde. Der Kopf kann abwägen, ob den Trieben nachzugeben ist, kann planen und kritisch hinterfragen. Er kann aber auch absurde Begründungen für festgefahrene Bauchgefühle liefern. Das Herz, die Entscheidungsmitte, muss die Synthese aus Bauch und Kopf realisieren, es ist der Sitz des Mutes und der Handlungsfreiheit. Erst durch das Herz werden Kopf und Bauch veredelt. Die Werte, die der Mensch im Herzen trägt, sind sein wertvollster Schatz. Durch das beständige Ausleben guter Werte gelangt man schließlich zur Tugend. Dieser im Weg steht das ungezügelte Ausleben unserer Triebe, die Herrschaft des Bauches.
Lustmaximierung
Vor diesem Hintergrund behandelt Bonelli vier große Affekte, die heute
viele von uns in ihrem Bann halten. Liebe, Gier, Angst und Hass.
Probleme mit der Liebe sind wahrscheinlich der häufigste Grund, warum
Menschen nach Rat und Hilfe suchen, ob im Internet oder beim
Therapeuten. Bonelli baut seine Überlegungen zur Liebe auf vier Stufen
auf: Venus, das tierhafte Verlangen; Eros, die personalisierte
Anziehung; Philia, Freundschaft und Prüfung der Liebe durch den Kopf;
und Agape, die Entscheidung zur verbindlichen Liebe. Wird diese
stufenweise Vertiefung der Liebe nicht berücksichtigt, droht die
Beziehung zu scheitern. So wird etwa eine Beziehung, die nicht über die
Stufe des Eros hinauskommt, an dem Abflauen der anfänglichen
Verliebtheit zugrunde gehen.
Gier ist nach Bonelli der Affekt unserer Zeit. Jeder will mehr Geld, und viele sind von Süchten getrieben: Alkohol, Süßigkeiten, das Internet, Social Media, Pornos, Spiele, Konsum oder das Verlangen nach Anerkennung halten uns im Bann, machen uns zu Sklaven der Sucht. All diese Laster kommen aus dem Bauch, der ohne Rücksicht auf Verluste auf der unmittelbaren Befriedigung seiner Wünsche besteht. Den Weg aus diesem Sumpf weisen Klugheit, Tapferkeit und Maß. Klugheit, Versuchungen zu meiden, Tapferkeit, ihnen zu widerstehen, und Maß halten im Genuss. Ein geordnetes Herz mit klaren Werten ist notwendig, um in einer Welt der tausend Versuchungen nicht den Kopf zu verlieren.
Unlustvermeidung
Auf der anderen Seite hindern uns die aversiven Affekte Angst und
Aggression daran, uns zu entfalten. Eine besonders perfide Facette der
Angst ist der Perfektionismus, der aus dem Verlangen nach Anerkennung
durch andere entspringt, und aus der Angst, deren Ansprüchen nicht zu
genügen. Von dieser Angst getrieben, stürzen sich Menschen in mehr
Arbeit, als sie bewältigen können, und bekommen so “Burnout” - eine
schmeichelhafte Diagnose, schließlich zeigt das zumindest, dass sie hart
arbeiten. Ein Aspekt dieser Gier nach äußerer Anerkennung ist, dass
Status-wirksame Anerkennung über persönliche Beziehungen gestellt wird.
Zum Beispiel wird die Zeit mit der Familie den Überstunden im Job
geopfert, da nichts wichtiger ist als das Lob des Chefs. Wege aus der
Angst sind das Üben von Tapferkeit, und das Eingeständnis der eigenen
Fehlbarkeit. Interessante Ansätze zur Überwindung der vielen Ängsten
zugrunde liegenden Scham finden sich in Man’s Guide to Shame, zu finden
auf animusempire.com.
Aggression, häufig moralistisch gerechtfertigt, ist der andere, wichtige adversive Affekt, den Bonelli behandelt. Nach Bonelli ist dieser im Zunehmen begriffen - auf den eigenen Rechten, etwa im Straßenverkehr, wird pedantisch beharrt, das Missachten einer roten Fußgängerampel bei leerer Straße erzeugt moralische Empörung, wer keine Maske trägt, will Großmutter töten: hinter der kleinsten Verfehlung werden bösartigste Motive vermutet. Früher harmlose Tätigkeiten, etwa der Fleischverzehr, können bereits zur moralischen Verurteilung führen, und kleinlicher Streit vergiftet Beziehungen. Bonelli schlägt vier konstruktive Schritte vor, um mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen: Abstand, Selbstrelativierung, Perspektivenwechsel, Aussprache.
Das tugendhafte Leben
Tugend ist die Zauberformel für das glückliche Leben. Sie beschreibt das
zur Gewohnheit gewordene Streben nach dem Guten, Wahren und Schönen,
nach Selbsttranszendenz. Tugend macht es uns möglich, immer wieder Gutes
zu tun, auch wenn der Weg der Lasterhaftigkeit der leichtere wäre. Das
tugendhafte Leben führt dazu, dass der launenhafte Bauch unser Freund
wird und uns automatisch zum Guten lenkt, oder zumindest unser Leben
nicht mehr hemmungslos aus der Bahn wirft: An konstruktives Verhalten
und Triebverzicht gewöhnt, beginnt der Bauch, gesündere Impulse zu
geben. Nur wer so tugendhaft geworden ist, kann wahrhaft frei sein -
frei, das richtige zu tun, ohne von seinen Trieben beherrscht und ins
Unglück gestürzt zu werden.
Jenseits von Tugend
An Bonellis tugendhaftem Leben scheint wenig auszusetzen - wer möchte
nicht frei und glücklich nach dem Guten streben? Doch bei aller
Betonung, dass Bauch, Kopf und Herz zusammenwirken müssen, wirkt dieses
tugendhafte Leben doch etwas kopflastig. Ist der bedachte, maßvolle Weg
wirklich immer der bessere? War etwa Goethe maßvoll? Er sagte von sich,
dass er kaum je mehr als ein paar Wochen am Stück zufrieden war - dann
trieb es ihn zu neuem, maßlosen Schaffen! Und wäre Paris von Trojas
Leben glücklicher verlaufen, wenn er seine Begierde nach Helena hintenan
gestellt hätte und ein braves, ordentliches Leben geführt hätte? Gewiss,
er wäre älter geworden. Doch ist es nicht möglich, dass das rauschhafte
Glück des Augenblicks alles Leiden und den Tod, den der Liebende dafür
erlitt, aufwog? Und ist nicht der allzu Maßvolle bereits ein Stück weit
Letzter Mensch?