“Auf diesem wegen großer Hitze oft mühsamen Wege hatte ich in meinem Innern wiederholt den tröstlichen Eindruck, als stehe ich unter der besonderen Leitung gütiger Wesen und als möchte dieser Gang für mein ferneres Leben von wichtigen Folgen sein.”
Sein Gefühl trügt ihn nicht, als er sich im Sommer 1823 auf den Weg nach Weimar macht. Vor Jahren bereits geriet er in den Bann des großen Dichters: Es war mir, als fange ich erst an aufzuwachen, als werde mir in diesen Liedern mein eigenes, mir bisher unbekanntes Inneres zurück gespiegelt. Wieder und wieder erlebt der junge Eckermann Momente, in denen sich etwas tief in ihm regt. Er beschreibt es so: Oft wird der Mensch durch etwas, was er ganz zufällig tut, über das belehrt, was Höheres in ihm schlummert. So ist es. Scheinbar ziellos irren wir durch die Welt, da kommt uns etwas vor, was uns fasziniert, was uns nicht mehr los lässt und fortan unser Leben bestimmt.
Eindrucksvoll schildert Eckermann sein erstes solches Erlebnis: Ich saß eines Abends bei angezündeter Lampe mit beiden Eltern am Tische. Mein Vater war von Hamburg zurück gekommen und hatte ein Paket Tabak mitgebracht, das vor mir auf dem Tische lag und als Wappen ein Pferd hatte. Es bemächtigte sich meiner ein unwiderstehlicher Trieb, es nachzuzeichnen. Als es fertig war, kam es mir vor, als sei meine Nachbildung dem Vorbilde vollkommen ähnlich, und ich genoß ein mir bisher unbekanntes Glück. Die Nacht verbrachte ich in freudiger Aufregung halb schlaflos, ich dachte beständig an mein gezeichnetes Pferd und erwartete mit Ungeduld den Morgen, um mich wieder daran zu erfreuen.
Das ist das Glück des Schaffenden! Es ist stark wie das Glück des Liebenden, und vielleicht ist es dem Glück der Mutter vergleichbar. Die Stunden, in denen es mich überfiel, zählen zu den goldensten meines Lebens. Wie in der Liebe folgt dem Glück des Schaffenden das Leid: Es drängt ihn, sein ganzes Sein der neuen Leidenschaft zu widmen, aber er ist doch gefangen in den Bahnen seines bisherigen Lebens. Dies erfährt auch Eckermann: Der Oberamtmann fragt ihn, ob er zu einem Malermeister nach Hamburg in die Lehre gehen wolle. Seine Eltern widerrufen es ihm, und da nun meine Begriffe von einem Maler gleichfalls nicht höherer Art waren, verging mir die Lust zu diesem Metier und ich schlug das Anerbieten des guten Oberamtmannes aus dem Sinne. Jahre später, als er in Flandern die Gemälde niederländischer Meister in den Kirchen sieht, begreift er, was es heißt ein Maler zu sein: Ich sah die gekrönten, glücklichen Fortschritte der Schüler, und ich hätte weinen mögen, dass es mir versagt worden, eine ähnliche Bahn zu gehen.
Doch Eckermann gibt noch nicht auf. Noch als Soldat im Jägerkorps beginnt er wieder zu zeichnen, macht sich nach Ende des Krieges auf den fast vierzigstündigen Weg durch die öde Heide bei tiefem Schnee einsam zu Fuß, und erreicht nach einigen Tagen glücklich Hannover. Er geht bei einem Meister in die Lehre, ein Freund gewährt ihm Unterkunft, doch nach einigen glücklichen Monaten zwingt ihn eine schwere Krankheit und der Wunsch, dem Freund nicht länger zur Last zu fallen, das Vorhaben aufzugeben. In solcher Zeit äußerer und innerer Bedrängnis war es wohl nicht zu verwundern, dass ich dem Drange der Umstände nachgab und, auf die künstlerische Bahn Verzicht leistend, eine Stelle in einer der Kriegskanzlei nahestehenden Kommission annahm.
Er fühlt sich wohl in dem neuen Beruf, er kann dem Freund seine Hilfe vergüten, und seine Vorgesetzen sind Männer von der edelsten Denkungsart. Die gewonnene Muße nutzt Eckermann, um mit einem befreundeten, jungen Künstler auf Streifzüge in Kunst und Kultur in der Residenzstadt zu gehen. Bei der Lektüre von Gedichten über den Krieg, den er selbst erlebt hatte, regt sich erneut sein innerster Trieb: Wie nun aber auf mich nicht leicht etwas Bedeutendes wirken konnte, ohne mich tief anzuregen und produktiv zu machen, so ging es mir auch mit diesen Gedichten von Theodor Körner. Es erwachte in mir ein mächtiger Trieb, zu versuchen, ob es mir nicht gelingen sollte, es ihm einigermaßen nachzutun. Erstmalig stellt sich Erfolg ein, Zeitschriften veröffentlichen das Gedicht, es gibt Neuauflagen und ein bekannter Komponist vertont das Werk. Dann begegnet Eckermann den Werken des großen Dichters: Ich lebte und webte Jahr und Tag in diesen Werken und sprach von nichts als von Goethe. Ich kam nach und nach dem Begriff der innerlichsten Harmonie eines Individuums mit sich selber, und somit ward mir denn das Rätsel der großen Mannigfaltigkeit sowohl natürlicher als künstlicher Erscheinungen immer mehr aufgeschlossen.
Der Spur seines Idols folgend entdeckt Eckermann bald die Werke Shakespears und der Griechen. Erneut stößt er an seine Grenzen: Man machte mir von manchen Seiten bemerklich, dass ich mich auf eigenem Wege vergeblich abmühe und dass, ohne eine sogenannte klassische Bildung, nie ein Dichter etwas Vorzügliches leisten werde. Ein Jahr nimmt Eckermann Privatstunden, macht gute Fortschritte. Allein bei meinem unaussprechlichen Drange vorwärts kam es mir vor, als gehe es zu langsam. Knapp besteht er die Aufnahmeprüfung und darf der Sekunda eines Gymnasiums beitreten.
Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass ich als ein fast Fünfundzwanzigjähriger, der bereits in königlichen Diensten stand, unter diesen knabenhaften Jünglingen eine wunderliche Figur machte, so dass diese neue Situation mir anfänglich selber ein wenig unbequem und seltsam vorkommen wollte. Doch mein großer Durst nach den Wissenschaften ließ mich alles übersehen und ertragen. Eine herausragende Stelle: Wenn du es ernst meinst, halten weder Konvention noch Scham dich auf! Einige Monate lang hält er die Schule durch, doch die Belastung aus Arbeit und Schule zugleich zehren ihn aus, bis er sich abgestumpft fühlte an Leib und Seele. Er kehrt zurück zu den Privatstunden und erwirbt schließlich Gönner an der Residenz, die anbieten, ihm ein “Brotstudium” zu finanzieren. Doch Eckermann will anderes studieren, er lehnt ab.
Wenige Jahre später ist er klüger: Jetzt aber, durch die Erfahrung gewitzigt und der unsäglichen Kämpfe mir noch zu gut bewusst, war ich klug genug gewesen, mich den Ansichten einer übermächtigen Welt zu bequemen und zuerklären, dass ich mich der Rechtswissenschaft widmen wolle. Allein, seine Gedanken sind bei der Poesie und beim Drama. So aber erging es mir wie einem Mädchen, das gegen eine vorgeschlagene Heiratspartie bloß deswegen allerlei zu erinnern findet, weil ihr unglücklicherweise ein heimlicher Geliebter im Herzen liegt. Bald gibt er das Jurastudium auf, hört ein Semester Philologie und verlässt schließlich im Herbst 1822 die Universität, um mit neuen Veröffentlichungen Geld für weitere Studien zu erlangen. Er nimmt Kontakt auf mit Goethe, der antwortet wohlwollend. Im nächsten Jahr schickt Eckermann sein neues Werk über die Poesie an Goethe. Dann fasst er sich ein Herz und lenkt sein Schicksal in Bahnen, die ihn unsterblich machen werden:
Es lebte nun in mir kein anderer Trieb, als ihm einmal einige Augenblicke persönlich nahe zu sein; und so machte ich mich denn zur Erreichung dieses Wunsches gegen Ende des Monats Mai auf und wanderte zu Fuß über Göttingen und das Werratal nach Weimar.