Gedanken zu Ernst Jüngers Roman “Die Zwille”
Clamor, Weisenkind und Träumer, wird aus der Obhut des Dorfpfarrers in die Stadt, ans Gymnasium gebracht. Dort wohnt er in einer Pension beim Bruder des Pfarrers und unterwirft sich Teo, dem umtriebigen Pfarrerssohn. Der Schule und dem Leben nicht gewachsen, gerät er in eine peinliche Situation nach der nächsten und ist erleichtert, als man ihn vom Gymnasium wirft.
Leicht fiel es mir, mich in Clamor, dem Träumer wiederzuerkennen. Er verliert sich in Gedanken und Tagträumen, er kommt zu spät, er fühlt sich fehl am Platze und schuldig, obwohl er nichts getan hat. Einmal nur wird er von Zorn übermannt und teilt Prügel aus. Der Kunstlehrer erkennt richtig, dass auch in Clamor Wertvolles steckt. Die verträumte Weltfremdheit, die ich in meiner Kindheit schier andauernd hatte, mag in mir die Begeisterung für das Wunder Leben geschürt haben. Als junger Erwachsener aber musste ich den Clamor in mir bekämpfen, der mich fern der Welt in seinen Träumen halte wollte. Ganz ist es mir nicht gelungen, aber ganz muss es vielleicht nicht gelingen. Indem ich meine innere Wildheit wiederfinde, verliert Clamor die Übermacht und reiht sich als ein Aspekt in meinen Charakter ein.
Wo Clamor durch die zauberhafte Faszination für die Schönheit des Waldes und der Welt bestach, gibt es wenig, was mir den Pfarrer, den “Superus”, ans Herz wachsen lässt. Er nimmt sich Clamors an, doch sein eigenes Leben geht in Trümmer. Anstatt sich zu wehren, aufzubegehren, zu kämpfen, lässt er es hilflos geschehen. Anstatt Verständnis ruft er bei Frau und Sohn Verachtung hervor. Der nette Kerl, der keiner Fliege etwas zuleide tun mag, ist als Nachbar angenehm - als Vater oder Ehemann ist er ein Versager und eine Gefährdung. Folgerichtig wird er verlassen. Seine akademische Bildung und sein theoretisch gutes Begreifen der Welt werden durch die Abwesenheit von Selbstachtung und Tatkraft wertlos. Leicht wäre es, ihn zu verdammen, doch interessant macht den Pfarrer, dass er natürlich auch in mir sich ein Stück weit wiederfindet. Wo ich Clamor auf seinen Platz verweisen musste, soll mir der Superus als Warnung dienen - ihn will ich gänzlich bannen.
Teo ist der Strolch, der Unruhestifter, der Aufwiegler, der Eigensinnige, der Stolze, der das Leben liebende. Wer mich als Knabe kannte, musste mich unweigerlich dem Teo zuordnen. Anders als Teo lies ich mich jedoch weitgehend zähmen, blieb zwar meine Schulzeit über ein Unruhestifter, doch schlich sich oft das schlechte Gewissen ein. Mein Stolz wurde beinahe gebrochen. Nach Jahren des Rückzugs begann ich in endlich, den Teo wiederzuentdecken - ich wurde geschickter im Umgang mit Männern und Mädchen und allmählich, wie eine zarte Pflanze, wuchs meine Selbstachtung und mit ihr meine Tatkraft wieder empor. In diesem Prozess stecke ich bis heute und ich bin unsagbar froh, dass es mir gelingt, wieder an den stolzen, wilden Jungen von damals anzuknüpfen. Die Gesellschaft muss Teo verdammen, er gilt als unmoralisch, sadistisch und rücksichtslos. Mir ist er Tausendsassa, Magier, Brücke zum Übermenschen - er steht zu sich, er will sein, wer er ist, er will mehr sein. Er hat das gute Gewissen der Jäger (S.242), das auch in mir zu erscheinen beginnt. Ganz Teo werde ich nie sein - aber vielleicht kann ich eines Tages wieder ganz ich selbst sein.